BEI DEN STERNEN

BEI DEN STERNEN

Ich bin eigentlich kein Mensch, der in Blogs oder Foren schreibt. Aber hier möchte ich es wagen. Wagen, damit auch andere Frauen sich wagen. Andere Mütter. Denn auch ich bin eine Mutter, das ist mir jetzt erst richtig bewusst geworden. Ich möchte, dass meine leisen Gedanken laut werden. Dass sie eine Stimme bekommen. Das verwaiste Eltern Gehör finden. Lasst mich meine Geschichte, Gedanken und Gefühle erzählen, so, als würdet ihr mein Tagebuch aufschlagen und darin lesen. Bei den Sternen.

Ich bin gerade in einem Meer der Trauer. Ich versuche, an den Strand des Lebens zurückzuschwimmen. Auf die Seite, die mir wieder festen Boden unter den Füßen gibt. Ich schwimme auf den Wellen des Lebens, mal bin ich oben und surfe, lache, habe echte Freude. Mal zieht mich der Sog mit voller Wucht wieder nach unten und erdrückt mich mit Traurigkeit, Tränen und Ängsten. Vor der Zukunft. Vor dem, was kommen wird. Wer wir am anderen Ufern sein werden

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MEINE GESCHICHTE

Ich bin 39 Jahre und habe einen liebevollen Freund, der mich seit fast 18 Jahren an meiner Seite begleitet. Und wir haben zusammen zwei Sternenkinder – Oktober 2017 (10. SSW) und Juni 2018 (21. SSW). Fast 4 Jahre hat es gedauert, bis ich nach dem Absetzen der Pille schwanger wurde. Aus heiterem Himmel hielt ich den positiven Test im August 2017 in meinen Händen. Wir waren überglücklich. Wir waren sehr zurückhaltend und haben es keinem erzählt.

Den September haben wir zwei für uns im Stillen genossen und uns über das kleine Wunder in mir gefreut. Ganz zaghaft und vorsichtig, ohne große Pläne. Mit Morgenübelkeit und einer bis dahin mir unbekannten Müdigkeit – nie zuvor habe ich soviel geschlafen. Die Freude hielt leider nicht lange an -­ ich habe Anfang Oktober Blutungen gehabt und der Ultraschall zeigte, dass ich das Kind schon verloren hatte. Es war nicht mehr da. Es folgte eine Ausschabung.

Nach einer Woche war ich wieder arbeiten, erzählte nichts davon. Wir erzählten es nur der Familie und engsten Freunden und machten weiter wie bisher. Verdrängten es irgendwie. Sagten uns, dass das normal sei. Viele Frauen verlieren ihr ersten Kind im ersten Trimester. Um uns herum wurden viele schwanger, ich war traurig – besonders an Weihnachten und Silvester, wollte keine große Feier sondern alleine sein. Das waren wir dann auch. Nur wir zwei zum Jahreswechsel auf einer kleinen Insel.

NEUES JAHR – NEUES GLÜCK

Neues Jahr – neues Glück, heißt es. Für mich nicht. Der Januar 2018 ging weiter mit einer tiefen Leere und Traurigkeit. Ich konnte mich nicht äußern, ich habe es mit mir alleine ausgemacht. Ich habe weiter funktioniert – vor allem im Job.

Ich habe viele Sedimentschichten. Nach außen bin ich straight und taff. Die Macherin. Durchgeplant und organisiert. Doch es gibt auch eine verletzliche und sensible Seite an mir. Die ihre Gefühle in Worten ausdrückt. In der Wahl der Musik. In Bildern. Die kam immer mehr zum Vorschein – mir und meinem Tagebuch, dem ich diese verletzliche Seite anvertraute. Mein Freund merkte es natürlich auch – aber ich konnte meine Gefühle nicht erklären. Nicht in Worte fassen. Nur sagen, dass ich nicht weiß, was mit mir ist und warum ich traurig bin.

Wie durch ein Wunder hielt ich im Februar wieder einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen. Mein Freund kam zu jeder Untersuchung mit, freute sich über diese schnellen kleinen Herzschläge auf dem Ultraschall. Wir waren voller Glück, eine kleine Familie zu werden. Dennoch waren wir wieder zurückhaltend mit dem Kundtun der frohen Botschaft, da wir Angst hatten. Auch bei dieser Schwangerschaft machten wir die Übelkeit, Müdigkeit und den veränderten Hormonhaushalt mit uns aus.

SCHWANGERSCHAFTSWOCHE 12+2

Es war nicht leicht für mich, das im Büro zu verheimlichen. Es war anstrengend. Abends schlief ich auch der Couch ein oder ging gleich direkt ins Bett. Aber es war positiv für mich, die Schwangerschaftsbeschwerden zu spüren. Es hieß für mich, dass alles gut verläuft und ich noch schwanger bin. Nachdem bei der Nackenfaltenmessung bei 12+2 alles gut bzw. unauffällig war, haben wir es unseren Familien und Freunden erzählt. In der Firma habe ich es in der 15. SSW berichtet. Und von da an unser neues Leben geplant. Und es mir so wunderbar ausgemalt.

Den Sommer 2019 mit Kind am Strand. Mit Oma und Opa. Und organisiert. Ich habe einen Geburtstvorbereitungskurs gebucht, eine Hebamme gesucht und gefunden. Tauschte mich mit anderen Müttern über Kinderwagenmodelle und Tragesysteme aus. Hatte schon einen Stubenwagen und Babybay als Leihgabe sicher. Ich war nie glücklicher in meinem Leben. Nie war es inniger mit meinem Freund.

Ich war regelrecht beflügelt und beseelt. Ich fühlte einen tiefen Sinn in meinem Leben. Die Hormone verdoppelten wenn nicht gar verdreifachten mit Sicherheit dieses Glücksgefühl. Ich spürte, wie ich mich veränderte, achtsamer wurde. Mit mir und meiner Umwelt. Ich begann mit Yoga und Pilates. Ich achtete so sehr auf mich und meine Gesundheit. Ich merkte, wie sehr ich dieses Kind wollte.

EIN SANFTES FLATTERN

Manchmal glaubten wir, eine kleine Bewegung zu spüren. Ein sanftes Flattern. Jeden Abend haben wir eine Spieluhr auf meinen Bauch gelegt. Brahms Wiegelied – klassische Früherziehung, wie wir im Spaß sagten. Dass die Zeile „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ bittere Wirklichkeit werden sollte im übertragenen Sinne – wer sollte das ahnen … .

Ich nahm an Gewicht zu, meine Werte waren stets gut – auch war ich mit meiner Schilddrüsenunterfunktion gut eingestellt. Das war immer meine erste Frage, ob die Werte gut seien. Und überhaupt war alles gut. Es war ein wunderschöner Frühling mit Sommerwetter und ich genoss jeden Tag. „Das ist unser Jahr!“ sagten wir uns. Wir berichteten immer mehr Bekannten von der freudigen Nachricht. Alle freuten sich mit uns – einige sogar mit echten Freudentränen in den Augen. Ich regelte die Dinge im Büro – Beginn Mutterschutz, Dauer der Elternzeit und Vertretungsmöglichkeiten für meine Elternzeit. Durchgeplant und organisiert. Doch man kann nicht alles in seinem Leben planen …

UNTER SCHOCK

Die wenigen Minuten der Stille beim Arzt und der Blick auf das Ultraschallgerät kamen uns wie Stunden vor. Alle hielten den Atem an, keiner sagte was. Und dabei war uns beim Blick auf das Gerät völlig klar, dass da was nicht stimmt. Dass da kein Herzschlag mehr war. Das Bild auf dem Ultraschallgerät zeigte ein stilles Menschlein. Die Konturen waren schon unscharf und nicht mehr klar erkennbar. Das Kind sei schon einige Wochen tot, sagte der Arzt. Ich habe nichts gemerkt.

Die schreckliche, unfassbare und so traurige Nachricht vom Arzt, dass unser Kind nicht mehr lebt, lähmte alle Gedanken. Die Momente danach erlebten wir wie im Film. Wie fremdgesteuert. Ich erfuhr, dass ich das Kind auf normalem Wege zur Welt bringen soll. Wie unter Schock verließen wir die Praxis, zu keinen Tränen möglich, zu unfassbar und unreal diese Nachricht. Wir sagten uns: „Das passiert nicht gerade wirklich uns nein, wir wollen das nicht glauben!“

Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Hause mit einem Umweg um unseren See. Wir redeten und weinten immer noch nicht. Als wir die Haustür aufschlossen und die Tür ins Schloss fiel, brachen wir beide in Tränen aus. Wir hielten uns so fest in den Armen, zitterten, weinten. Waren so fassungslos. Und so unendlich traurig. Ich schrieb diese Nachricht:

„Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders und uns wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Das unsichtbare Drahtseil des Lebens hat uns vom höchsten Glück in tiefste Trauer fallen lassen. Leider hat unser ungeborenes Kind viel zu früh seinen Anker gelöst -­ wir haben es verloren. Das Herz schlägt nicht mehr. Wir wissen nicht warum. Das Leben hat seine eigenen Regeln -­ wir verstehen sie gerade nicht. Warum wieder wir? Warum noch eine Prüfung und so eine harte?

Ich muss das Kind auf normalem Wege zur Welt bringen -­ ich weiß noch nicht wann. Und überhaupt wie. Wie kann ich das ertragen? Wird es wehtun? Werden wir wissen, ob Junge oder Mädchen? Werden wir es sehen? Tränenflüsse nach Monaten der Freude und des Glücks. Ich kann keine klaren Gedanken fassen.

Wir werden gemeinsam unseren weiteren Weg gehen -­ wo er uns lang führen und wie steinig der Untergrund sein wird, wissen wir heute noch nicht.“

Es zerriss mir parallel fast das Herz, dass meine Eltern einen Tag zuvor zu einer 3-­wöchigen Urlaubsreise aufgebrochen waren. Sie fragten natürlich nach dem Ultraschalltermin. Wir überlegen hin und her, was wir antworten sollten. Wir entscheiden uns für die Wahrheit. Und, dass sie ihren Urlaub fortsetzen sollen.

Meine Mutter berichtete mir danach, dass sie fast täglich geweint hat. Es tut mir so unendlich leid, dass sie so leiden musste. Ich habe ihr eine Willkommenspostkarte nach Hause geschickt. Ihr, der Großmutter unseres verstorbenen Kindes.

An dem Abend noch informierten wir unsere Familien. Wir waren so klar und stark und konnten mit allen telefonieren. Der Schock muss die Tränen bei den Gesprächen zurückgehalten haben. Anders kann ich es mir heute nicht erklären.

HILFREICHER RAT

Wie es das Schicksal so wollte, hatten wir einige Wochen zuvor bereits ein Krankenhaus bei einem Infoabend besichtigt und uns gleich dort wohl gefühlt. Das sollte es zur Entbindung sein. Meine Hebamme informierte ich auch noch am selben Abend – sie kam am Mittag darauf zu uns nach Hause. Es war ein so gutes Gefühl, sie an unserer Seite zu haben. Ihr Dasein, ihre ruhigen, zusprechenden Worte und ihr hilfreichen Rat.

Es war eine Vertrautheit da, obwohl ich sie davor erst einmal gesehen hatte – bei unserem Kennenlerntermin. Sie nahm mir die Angst vor der natürlichen Geburt. Sie gab uns den Kontakt zum Verein „Leere Wiege“ für verwaiste Eltern. Berichtete uns, dass wir unser Kind sogar würdevoll beerdigen können, wenn wir dies wünschen. Wir fühlten uns sehr getragen und aufgefangen. Das war ein unendlich wertvoller Beitrag aller, wie wir jetzt wissen. Wir sind sehr dankbar für diese Brücke, die uns gebaut wurden – wir sind über sie gegangen. Das machte uns alles ein Stückchen leichter.

Der Frauenarzt hat uns keine dieser Informationen mit auf den Weg gegeben. Hätte ich nicht schon so früh meine Hebamme gehabt, so hätte ich nie diese Informationen bekommen. Ich gab ihm im Nachhinein die Botschaft mit auf dem Weg, im Falle einer Fehlgeburt diese Unterlagen in seiner Schublade zu haben. Ob er es tun wird, weiß ich nicht.

Am Nachmittag fuhren mein Freund und ich mit unserem toten Baby in meinem Bauch in die Natur. Wir lachten und weinten zusammen. Wir haben in die Weite geblickt. Abschied genommen. Einem kleinen Rehkitz in die Augen geschaut – direkt ins Herz. Wir haben Blumen, Bäume, Vögel betrachtet. Alles unendlich traurig und fassungslos -­ aber gemeinsam als kleine Familie. Ich erinnerte mich dieser Tage an meinen Taufspruch:

„Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.“ (Psalm 68, 20)

Ich bin nicht gläubig. Aber ja, so soll es wohl sein.

DER TAG DER GEBURT

7. Juni 2018, der Tag der Geburt. Wir haben selbst entschieden, wann wir ins Krankenhaus gehen. Nach dem Abschied gestern waren wir nun bereit dazu.

Ich schrieb in mein Tagebuch: Noch nie fühlte ich mich so stolz, schön und glücklich wie die letzten Monate. Noch nie war es harmonischer, inniger und echter in meiner Beziehung. Noch nie habe ich intensiver empfunden. Tage kamen wie Monate vor. Wie ein kleines neues Leben. Es war und ist ein neues Leben. Wir sind und werden andere sein. Nichts ist wie es einmal war.

Tag 149 ist heute. Ich bin so unendlich traurig. Alles tut mir weh.

Wir werden heute Eltern.

Vater und Mutter.

Bekommen unser Kind.

Viel zu früh und nicht am Leben.

Ich habe an dem Morgen ganz normal gefrühstückt, geduscht und mich fertig gemacht. „Ich möchte hübsch sein für mein Kind“, sagte ich zu meinem Freund.

Am Abend zuvor hatten wir schon den Krankenhaus-­Rucksack gepackt -­ nicht wirklich wissend, was ich alles mitnehmen muss.

Um 10 Uhr waren wir im Krankenhaus. Die Anmeldungen erledigten wir mit wattigem Kopf. Ohne klaren Gedanken. Krankenkassenkarte vergessen, keine Zahnbürste dabei -­ nicht vorbereitet und einfach noch unter Schock. Untersuchung der Frauenärztin -­ derselbe Befund: kein Herzschlag mehr. Es ist wohl nur 17 Wochen alt geworden.

Wir haben ein Doppelzimmer für meinen Freund und mich bekommen mit Blick in die Baumspitzen und den blauen Himmel. Es war ein strahlend warmer Sonnentag.

Es wurde mir ein Zugang gelegt – der anfangs sehr schmerzte. Mittags die erste Einnahme von Cytotec. Mittagessen. Danach sind wir in den Krankenhauspark, haben dort gesessen, geredet, gesonnt, geschlendert. Haben in die Bäume geguckt. Nachmittags die zweite Einnahme der beiden Pillen. Ich habe mich ins Bett gelegt und nach und nach kamen mehr Schmerzen. Erst wie Regelschmerzen, danach krampf-­‐ und wehenartig. Fruchtblase das erste Mal ein wenig entladen. Später ein kräftiger Schwall während des Abtastens. Schmerzmittel bekommen per Tropf. Nicht angeschlagen. Versucht, in die Schmerzen zu atmen. Nach 20 Minuten ein Betäubungsmittel, was zum Glück bald wirkte.

Nun fühlte sich alles nur noch wie Regelschmerzen an, was ich gut aushielt. Ich war ruhig. Mein Freund und meine Schwiegermutter waren bei mir. Sie haben meine Hand gehalten und gedrückt. Meine Stirn gekühlt. Wir haben Bob Marley zugehört – wie schon die letzten Tage – so beruhigend, sanftmütig und freundlich. Dann habe ich meinen Freund und seine Mutter auf einen Spaziergang geschickt um 19:30 Uhr.

UNSER GEMEINSAMER WEG

Es war nun ganz ruhig und leise im Raum. Keine Musik, keine Gespräche – nur der gemeinsame Weg des kleinen Wesens und mir. Ein nächster Schwall Fruchtwasser – ein großer. Ich habe meinen Freund angerufen, er solle nicht so weit gehen und besser wiederkommen. Er kam und brachte die Hebamme und Ärztin mit. Der nächste Stoß, die nächste Wehe, ein Blick nach unten: das Baby, das tote winzige Menschlein. Auf einmal war es da, ohne Pressen. Es kam still, friedlich, leise und im Bett -­ kein Kreißsaal. Eine andere Hebamme kam dazu und hat die Nabelschnur durchtrennt. Mein Freund und meine Schwiegermutter hatten das Baby schon unter mir liegen sehen. Ich habe es kurz in der kleinen Nierenschale gesehen. So winzig, nicht fertig, das Geschlecht nicht erkennbar, schon länger tot und dunkelrot. Aber friedlich. Es ist seinen Weg gegangen.

Es ist der 7. Juni 2018, 19:50 Uhr.

Wir haben uns dazu entschieden, dass Fotos von dem Kind gemacht werden. Sanft in Blumen gebettet. Wir sind den Schwestern heute sehr dankbar, dass sie uns dazu ermutigt haben. Unsere erste Reaktion war nämlich nein.

Danach wurde ich in den OP-­Saal geschoben. 4 Ärzte, die mich angeschlossen und versorgt haben. Ich war ganz ruhig und habe mich sicher gefühlt. Von der Nachcurettage habe ich nichts mitbekommen. 21:15 Uhr im Aufwachraum erwacht, Halsschmerzen von der Inkubation. Gegen 21:45 Uhr zurück im Zimmer. Ich sah einen rot-­bläulichen Abendhimmel. Gegen 23 Uhr ins Bett. Ein vertrautes Schnarchen neben mir. Mein Freund neben mir. Meine andere Hälfte. Ich hatte starke Schmerzen wegen der Kanüle und habe kaum geschlafen.

Der Morgen danach, Freitag, 8. Juni 2018

2 Kilo leichter als am Dienstag … wie schnell auf einmal was weg ist, das Baby weg ist, einfach nicht mehr da. Nicht mehr in mir.

Erwacht im Krankenhaus, mein Freund neben mir. Laues Morgenlüftchen, Ruhe. Ich habe eine Tablette bekommen, um den Milcheinschuss zu verhindern. Letzter Spaziergang im Krankenhauspark. Ein sonniger Freitag, kein Wind, 30 Grad angekündigt.

Gegen 11 Uhr nach Hause, wo die Schwiegermutter wartete. Liebevoller Blumenstrauß für uns mit schönen Pfingstrosen … war das kleine Wesen zu Pfingsten wohl schon tot im Mutterleib.

Die Schwangerschaftsbücher daheim und der Flyer zur Bestattung, den wir im Krankenhaus bekommen haben, haben mich überrollt – ich bin ins Bett geflüchtet. Traurig, müde, leer. Ich habe geweint und mich eingerollt.

Wir sind nachmittags raus gegangen. Spazieren, ungeschminkt, verweint, mit Sonnenbrille. Bewegung und frische Luft taten so gut.

Am Nachmittag kam meine Hebamme zur Untersuchung und zum Reden. Ich war dankbar, ihr von der Geburt erzählen zu könne. Von den positiven Eindrücken und der Betreuung im Krankenhaus, detailliert von der Geburt und unseren Gefühlen dabei. Dass ich dankbar dafür bin, dass Kind auf die Welt bringen zu dürfen. Es gesehen zu haben. Ihr Dankbarkeit zu zeigen, da sie mich dazu bestärkt hat. Wir waren alle so klar und gefasst. Es tat sehr gut, ihr das berichten zu können. Ebenso das weitere Vorgehen – Bestattung, Obduktionsbefund, Abschlussuntersuchung beim Frauenarzt, seelische Betreuung und auch über Zukunftsängste und -­pläne.

Nach der Geburt schrieb ich diese Nachricht:

AHOY BABY ⚓ ADIEU BABY

J. und ich sind Eltern. Vater und Mutter. Eine Familie. Am 7. Juni 2018 kam nach über 7 Stunden um 19:50 Uhr ein winziges Wesen vier Monate zu früh, viel zu klein und tot auf diese Welt. Friedlich, sanft und ganz leise war es da. Danke, dass wir dich bekommen durften. Wir hätten dich so gerne kennengelernt.

Die Tage danach waren wir viel draußen in der Natur. Haben ganz intensiv und nah beieinander die Zeit verbracht. Zu zweit. Wir haben gemeinsam geweint. Uns fest in die Arme genommen. Wir haben uns gegenseitig wieder aufgebaut. Wir als Paar, als Team. Wie wir es so gut können – das wissen wir seit vielen Jahren. Wir hätten es nur so gerne mit unserem Kind geteilt und versucht, auch ebenso gute Eltern zu sein.

Ich habe viele Bücher zur Trauerbewältigung und –Verarbeitung recherchiert, Rezensionen gelesen und dann bestellt.

HERZ UND KOPF

Ich habe den Schwangerschaftsordner um den Reiter „Fehlgeburt“ erweitert. Wie selbstverständlich habe ich Unterlagen abgeheftet. Wir haben Termine organisiert – andere Hebamme, die auch Trauerbegleitung macht. Bestattungsunternehmen. Frauenarzttermin. Wie irre es ist, dass Kopf und Herz nebeneinander arbeiten können, funktionieren.

Mein Freund telefonierte viel, um sich mitzuteilen und von uns zu berichten. Ich schrieb mir alles von der Seele. Meine Notizen auf dem Smartphone wurden mein wichtigster Begleiter. Ich telefonierte nur ganz wenig. Fand keine Kraft des Sprechens. In einigen Momenten war ich ganz euphorisch und habe viele Nachrichten geschrieben, Telefonate vereinbart. Es waren Gespräche mit engen Vertrauten – meiner Familie und besten Freunden.

Ich fand sofort die Kraft, meine Trauer in die Gestaltung der Trauerkarte zu legen. Ich saß vor dem Computer und weinte. Ich gestaltete und textete mir den Verlust von der Seele.

Ich schrieb in mein Tagebuch:

Vor einer Woche wurde um diese Uhrzeit unser Leben aus den Angeln gerissen -­ ohne Vorwarnung, ohne Netz und mit voller Härte. Die schmerzhaften Erlebnisse, Erfahrungen, Momente, Gedanken, Gefühle könnten das Tagebuch eines ganzes Jahres füllen. So intensiv, so bedeutend, so einschneidend.

Die Kommunikation nach außen wird ganz plötzlich eine andere. Familie, Freunde, Kollegen – wie reagieren sie? Reagieren sie? Erwartungshaltungen werden vom eigenen Schmerz eingenebelt und weggeblasen und sind doch unterschwellig da. Warum meldet sich keiner? Ich habe doch nichts getan … .

DIE TRAUER VERSTEHEN

Durch die Trauerratgeber und die Begleitung durch die Leere Wiege werden mir diese Fragen, mein innerer Dialog, beantwortet. Es wurde mir erklärt, dass ich in der Trauer dünnheutig bin. Verletzbar. Ohne Schutzhülle. Ja, das ist gut beschrieben.

Ich lese viel, um zu verstehen. Zu verstehen, was die Trauer mit mir macht. Mit uns macht – meinem Partner und mir. Meiner Familie und mir. Freunden und mir. Der Außenwelt und mir. Dass es typische Erscheinungen sind.

Der Ratgeber „Gute Hoffnung, jähes Ende“ fasst in Worte, was ich selbst nicht begreifen oder beschreiben kann. Was Trauer ist. Was sie mit mir macht. Dass sie mich aus dem Gleichgewicht wirft. Das es gute und schlechte Tage gibt. Dass es mein Weg ist. Dass es Zeit braucht. Meine Zeit, selbst wenn andere Menschen andere Erwartungen an mich haben.

Ich schreibe an meine besten Freundinnen und sende ihnen dazu Passagen aus dem Ratgeber:

Ihr kennt mich – ich möchte, dass alles klappt, funktioniert. Dass ich mein Bestes gebe. Straight bin. Die letzten Wochen haben mich anderes gelehrt. Ich durchlebe neue Wahrnehmungen und Gefühle. Bin ich einen Tag ganz stark, fühle ich mich am nächsten so schwach.

Die Reisen sind Ruhepausen der Trauer und bislang konnte ich in ihnen echte Freude finden. Doch auch der Alltag will bewältigt werden. Ich hoffe sehr, ich wachse daran und gewinne hinzu.

Es ist so wichtig, dass ich diese meine Gefühle leben und zeigen darf. Schreiben kann. Weinen zulasse. Und das mit euch teilen kann. Weil ich weiß, dass in euch echte und wahre Freundinnen habe, die auch das mit mir teilen und annehmen.

Ich danke euch für eure Akzeptanz und euer Dasein. Ebenso möchte ich auch euer Leben weiter teilen – mit Familienbildern, Kinderbildern, Urlaubsbildern, Hundebildern, Arbeitsbildern, … .

Ich hoffe, dass ich es bald bei einem Treffen mit euch tun kann!

Ich habe das Buch „Leise wie ein Schmetterling“ genommen und angefangen zu lesen. Und auch aufgehört, da ich es in einem Rutsch durchgelesen habe.

EIN SANFTES, KLEINES BUCH

Ein schönes Buch, gute hilfreiche Kapitel -­ bejahend nickend, wohlig nachdenkend und ganz ruhig und leicht habe ich es in einem Schwung durchgelesen. Danach fühlte mich gut. Und etwas erleichtert.

Danach habe ich zu diesem Buch diese meine erste Rezension bei Amazon geschrieben! Das sind die kleinen Zeichen, von denen dort geschrieben wurde. Der Blick auf das Leben verändert sich -­ durchaus auch mit positiven Dingen und Handlungen.

Ich gab nach der Rückkehr und unserem Wiedersehen meiner Mutter das Buch zum Lesen. Sie sagt, sie sei sehr dankbar darüber und könne nun ein Stück weit besser das Geschehene und unsere Trauer verstehen. Ich bin ich so dankbar, dass sie das mit mir und uns teilt.

Immer wieder fotografiere ich einige Textpassagen aus verschiedenen Büchern und sende sie an mir enge Vertraute. Um mich mitzuteilen. Denn auch mir fehlen manchmal die richtigen Worte.

Jorge Bucay ist in dieser Zeit „mein Freund“ geworden. Ich habe zwei Bücher von ihm gelesen. Mit Freude. Mit Post -­ ist in den Händen und mit Tränen in den Augen bei einigen seiner Geschichten. Es waren beides Geschenke von Kollegen. Was für ein Geschenk!

Ich lege sie jedem ans Herz: „Das Buch der Trauer“ und „Zähl auf mich“.

… das nächste ist bereits bestellt. Ich freue mich darauf.

MONTAG, 18. JUNI 2018

Wir waren bei einem Bestattungsunternehmen und hatten ein Gespräch mit und Beratung von zwei netten, jungen Damen – wir waren gleich per du. Wir sollten über die Auswahl eines Sarges oder alternativ einer Schatulle, Holzbox oder Boot entscheiden. Die dürfen wir selbst ausschmücken. Ebenfalls die Wahl einer Aschekapsel/Urne. Wir haben Info über Preise bekommen – ich habe alles notiert. Und wieder funktioniert. Keine Träne.

Abends zu Hause habe ich mich gleich drangemacht und Postkarten, Strandgut, Kompass und Spieluhr rausgesucht. Mein Freund hat eine Holzkiste bestellt, da wir in der Stadt keine passende gefunden haben. Ich habe noch ein Halstuch von mir reingelegt, um es weich zu betten.

Ich habe angefangen, die Karten zu beschreiben. Mein Partner hat bitterlich geweint und konnte noch nichts Schreiben. Nichts raussuchen.

Mir tat es gut, meine Gefühle und Worte aufschreiben zu können -­ in kleinen kurzen Botschaften. Auf Postkarten und kleinen Zetteln. Zeilen, die in der Zeit bedeutend für mich waren. Zitate. Namen. Orte. Lieder. Gefühle während der Schwangerschaft.

Ich habe den Tisch fotografiert und diese sehr persönlichen Eindrücke mit der Familie geteilt -­ meine Art der Kommunikation in Bildern und Worten.

Mein Freund hat am nächsten Abend seine Karten an unser Kind geschrieben. Unter Tränen an meinem Schreibtisch. Er hat sich ganz viel Zeit genommen.

Beim Lesen seiner Worte habe ich auch geweint.

Am nächsten Tag habe wir die kleine Holzbox – den Sarg – abgegeben.

Verbunden mit der gestalteten Trauerkarte schrieb ich diese Nachricht an unsere Familien:

Ihr Lieben,

wir danken euch sehr für eure Worte, Gedanken, tiefe Anteilnahme und geteilte Trauer. Für euer Dasein in Gedanken und vor Ort. Für eure Anrufe, Nachrichten und die enge Verbundenheit im Herzen. Jedes Zeichen und jede Geste, ob laut oder leise, kurz oder lang, nah oder fern, tat uns so gut. Das ist es, was eine Familie ausmacht – und es ist so wundervoll zu wissen, dass wir das gemeinsam haben.

Dankeschön!

»Nur die Kinder wissen, wohin sie wollen«, sagte der kleine Prinz.

Wir wünschen unserem kleinen Stern, dass er den richtigen Weg für sich gefunden hat.

Heute wird er – zum Sommeranfang – dem Feuer übergeben. Wir freuen uns sehr, dass wir dem Abschiedsweg einen würdevollen Rahmen geben durften – wir haben eine schlichte, schöne Holzkiste liebevoll bestückt. Die letzte Ruhe findet er später dann in unserer Heimat Schleswig-­Holstein – so, wie wir es uns gewünscht haben. Wann, wissen wir noch nicht – wir lassen uns dafür Zeit.

Von ganzem Herzen,

J. & A.

22. BIS 29. JUNI 2018

Wir hatten den Urlaub im Frühjahr gebucht. Es sollte vor der Geburt noch einmal ein Paarurlaub werden. Wir haben es gewagt uns sind losgeflogen. Mit gemischten Gefühlen. Aber auch mit der Freude auf etwas Abstand nach den schweren letzten Wochen. Auf eine kleine Ruhepause der Trauer daheim. Auf neue Eindrücke und ein gemeinsames Erleben neuer Dinge. Es war eine Reisezeit vor den Ferien. Das heißt, Familien mit Kleinstkindern. Andere schwangere Paare, die die gleiche Idee wie wir hatten.

Es wurde eine Woche mit bestem Wetter, tollem Hotel und traumhafter Naturkulisse. Eine Woche mit Gefühlsschwankungen. Wir haben viel gelacht, gesehen und unternommen aber auch geweint, ganz plötzlich überkam es mich – im Restaurant, beim Sonnenuntergang. Wir haben erstmalig wieder Fotos von uns beiden gemacht. Uns, dem starken Paar, das ganz viel gemeinsam meistert. Wir waren stolz auf uns. Ich war stolz auf mich, mich im Bikini am Strand zu zeigen. Ohne Babybauch. Der Umstandsbikini, den ich bereits gekauft hatte, blieb daheim in der Schublade.

DIENSTAG, 3. JULI 2018

Wir haben eben unser Kind abgeholt. Nach Hause geholt. Typisch behördlich eingetragen Vor-­ und Zuname = Kind Sternen.

Auf dem Rückweg mit dem Fahrrad sagte mein Freund ganz rührend: „Wir machen nun einen Familienausflug.“ Die Sonne lacht, der Himmel strahlt blau, es ist Sommer.

Die kleine Urnenbox steht nun versiegelt bei uns. Darauf haben wir ein kleines gefaltetes Papierboot gestellt.

SONNTAG, 1. JULI 2018

Bei unserer Mountainbike-­Ausfahrt hat mich heute ein kleines Stückchen ein Schmetterling begleitet und ist neben mir her geflogen. Es war anrührend.

Die Natur gibt mir so viel Kraft. Ich sehe Dinge, die mir früher nicht aufgefallen wären. Die ich nicht beachtet hätte. Ich spüre, dass ich alles um mich herum ganz intensiv wahrnehme. Die Natur, die Menschen. Ich freue mich an spielenden Kindern auf dem wundervollen Spielplatz. Ich sehe in glückliche Kinder-­ und Opaaugen. Bei schwangeren Frauen denke ich „hoffentlich wird bei ihr alles gut“. Ich empfinde keinen Neid.

Ich kann stundenlang am Fluss sitzen und einer Entenmama und ihren Jungen zuschauen. Auf einer Bank sitzen und in den Himmel schauen. Kreisende Vögel beobachten. Selbst einen entlang stolzierenden Storch, der uns das liebste leider tot gebracht hat. Und ich empfinde keine Wut dabei. Ich bin ruhig.

Ich atme. Das Atmen habe ich die ersten Wochen fast vergessen. Nach einigen Wochen kam es wie nach einer langen Tauchfahrt auf einmal aus mir heraus. Tiefer, bewusster Atem. Ein und aus.

SAMSTAG, 14. JULI 2018

Nach schönen, guten Tagen bin ich gerade wieder traurig. Ich bin nach 5 Wochen das erste Mal alleine zu Hause. Zuvor habe ich Tag und Nacht mit meinem Freund verbracht. Er ist noch im Ausland arbeiten. Ich bin in unserer Wohnung. Alleine – mit der Urne unseres Kindes.

Ich lasse mich in meine Trauer fallen und schreibe alles auf.

Jetzt muss es raus. In die Tasten. Auf imaginäres Papier.

Es ist so befreiend. Ich durchlebe die ganze Zeit noch einmal. Einiges auch neu und mit einem leicht anderen Blickwinkel. Ich lese mich dabei. Es ist ein Dialog mit mir. Dafür bin ich so dankbar.

Das kann mir keiner nehmen. Niemals. Es wird ewig in meinem Herzen bleiben. Und aufgeschrieben kann ich diese Seiten meines Lebens immer wieder aufschlagen. Ich kann aus ihnen vorlesen, meine Gefühle teilen.

Eines Tages werden wir vielleicht auch stark genug sein, um den Obduktionsbericht zu lesen. Darin steht auch das Geschlecht unseres Kindes. Heute ist noch nicht der Tag dafür. Auch morgen nicht. Vielleicht im Oktober, vielleicht erst zum Geburtstag nächstes Jahr im Juni. Ich plane nicht mehr so viel – ich lasse die Dinge auf mich zukommen.

Der Schlüssel zu allem ist die Zeit. Meine Zeit. Unsere Zeit.

BEI DEN STERNEN

Wenn mich heute jemand fragt, ob ich Kinder habe, antworte ich: „Ja, 2 Sternenkinder.“

Leise wie ein Schmetterling habe ich dich in meinem Bauch flattern gespürt. Nur einmal kurz. Ich habe die Hände auf meinen Bauch gelegt, um dich zu schützen und dir ganz nah zu sein. Nun bist du fort. Ebenso leise wie ein Schmetterling. Ich spüre dich nicht mehr in meinem Bauch. Ich spüre dich tief in meinem Herzen. Leise weine ich -­ denn es tut so weh.

NACHTRAG IM AUGUST 2018

Manchmal ist die Zeit schneller da als man denkt. Anfang August haben wir uns getraut, dass Ergebnis des Obduktionsberichtes zu erfahren.

Wir wissen nun, dass wir einen Sohn haben – unseren kleinen Matrosen. Ich bin eine Jungs-Mama!

Die Obduktion des Babys sowie der Plazenta hat ergeben, dass er organisch kerngesund war! Er konnte sich nur nicht weiter entwickeln, da die Durchblutung der Plazenta gestört und zu wenig Fruchtwasser da war – ein Oligohydramnion. Der kleine Mann musste nicht leiden und hat zum Glück nichts davon gespürt.

Der Pathologe hat alles akribisch untersucht und wir sind froh, dass wir das Geschehene nun in medizinische Worte fassen können. Auf der anderen Seite aber auch traurig und wütend mit der Frage, ob der Frauenarzt es hätte bemerken und Messungen dazu machen können. Diese Frage werden wir nicht klären. Und möchten es nun auch ruhen lassen und keinen Schuldigen suchen.

Wir möchten dem Herzen und der Seele Frieden geben – und auf ein neues Wunder und Leben hoffen.

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